Eine Vermieterin kündigte wegen Eigenbedarfs, obwohl der Mieter eine schwere psychische Erkrankung als Widerspruchsgrund geltend machte. Das Gericht sah die gesundheitliche Härtefalllage nicht als überwiegend an, gewährte dem Mieter aber eine Räumungsfrist von über anderthalb Jahren.
Übersicht
- Das Wichtigste in Kürze
- Eigenbedarfskündigung trotz schwerer psychischer Erkrankung des Mieters: Wenn zwei Grundrechte kollidieren
- Was war der Auslöser für den Rechtsstreit?
- Welche Gesetze entscheiden über Kündigung und Mieterschutz?
- Warum gab das Gericht der Vermieterin Recht – und nicht anders?
- Welche Lehren lassen sich aus diesem Urteil ziehen?
- Die Urteilslogik
- Benötigen Sie Hilfe?
- Experten Kommentar
- Häufig gestellte Fragen (FAQ)
- Wann schützt mich eine psychische Erkrankung vor der Eigenbedarfskündigung?
- Muss mein gesundheitlicher Härtefall die Interessen des Vermieters klar überwiegen?
- Welche ärztlichen Gutachten benötige ich für den Härtefall-Widerspruch?
- Was tun, wenn das Gericht dem Vermieter Recht gibt und ich nicht umziehen kann?
- Wann gilt eine Eigenbedarfskündigung als vorgeschoben oder missbräuchlich?
- Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
- Das vorliegende Urteil
Zum vorliegenden Urteil Az.: 44 C 483/23 | Schlüsselerkenntnis | FAQ | Glossar | Kontakt
Das Wichtigste in Kürze
- Gericht: Amtsgericht Neustadt/Rübenberge
- Datum: 17.02.2025
- Aktenzeichen: 44 C 483/23
- Verfahren: Entscheidung über den Einspruch gegen ein Versäumnisurteil
- Rechtsbereiche: Mietrecht, Zivilprozessrecht
- Das Problem: Eine Vermieterin kündigte ihrem langjährigen Mieter die Wohnung wegen Eigenbedarfs für ihren Sohn. Der Mieter legte Widerspruch ein, da ein erzwungener Auszug seine schwere psychische Erkrankung massiv verschlechtern würde. Die Vermieterin machte ebenfalls geltend, dass ihre eigene psychische Gesundheit durch die beengte Wohnsituation leidet.
- Die Rechtsfrage: Hat der schwer erkrankte Mieter wegen unzumutbarer Härte einen Anspruch darauf, trotz des wirksamen Eigenbedarfs des Vermieters in der Wohnung bleiben zu dürfen?
- Die Antwort: Nein, die Kündigung ist wirksam, und der Mieter muss die Wohnung räumen. Das Gericht stellte fest, dass die gesundheitlichen Belastungen beider Parteien gravierend sind. Da das Interesse des Mieters nicht „klar“ oder eindeutig überwog, musste der gesetzlich geregelte Eigenbedarf der Vermieterin durchgesetzt werden. Dem Mieter wurde eine Räumungsfrist bis zum 31.08.2025 gewährt.
- Die Bedeutung: Schwere gesundheitliche Probleme des Mieters schützen nicht automatisch vor einer Kündigung. Das Gericht muss die berechtigten Interessen und gesundheitlichen Belastungen des Mieters und des Vermieters in jedem Fall gleichwertig abwägen. Nur wenn die Härte für den Mieter die Interessen des Vermieters klar übersteigt, wird die Kündigung unwirksam.
Eigenbedarfskündigung trotz schwerer psychischer Erkrankung des Mieters: Wenn zwei Grundrechte kollidieren
Wenn ein Vermieter Eigenbedarf anmeldet, steht oft das Recht auf Eigentum gegen das Recht des Mieters auf ein Zuhause. Was aber, wenn auf beiden Seiten schwere gesundheitliche Risiken drohen und ärztliche Gutachten eine Pattsituation attestieren? In einem Fall, der die Grenzen des Mieterschutzes auslotet, hat das Amtsgericht Neustadt am Rübenberge am 17. Februar 2025 (Az. 44 C 483/23) eine schwierige Entscheidung getroffen, die zeigt, wie Gerichte in einem Dilemma zwischen zwei schutzwürdigen Interessen abwägen.
Was war der Auslöser für den Rechtsstreit?

Die Geschichte beginnt in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im zweiten Obergeschoss eines Hauses in W., die ein Mann seit Februar 2015 bewohnte. Der Mieter, der unter gesetzlicher Betreuung stand, erhielt im Juni 2023 die Kündigung von seiner Vermieterin. Der Grund: Eigenbedarf. Ihr volljähriger Sohn, so die Begründung, sei in einer finanziell angespannten Lage und lebe seit Kurzem wieder bei ihr. Die Wohnverhältnisse seien beengt und konfliktbeladen, was den Gesundheitszustand der Vermieterin – sie litt an einer wiederkehrenden depressiven Störung – erheblich belaste.
Der Mieter widersprach der Kündigung umgehend über seinen Anwalt. Er argumentierte, die Kündigung sei nur ein Vorwand. In Wahrheit wolle die Vermieterin ihn maßregeln, weil er kritische Nachfragen zu den Nebenkostenabrechnungen gestellt hatte. Viel entscheidender war jedoch sein zweites Argument: ein Härtefall. Er legte dar, dass er an einer schweren, chronifizierten Psychose leide und ein Umzug seinen Zustand drastisch verschlechtern würde. Ein Wohnungsverlust, so seine Befürchtung, würde unweigerlich zu einem Rückfall und einer erneuten Einweisung in eine Klinik führen.
Da der Mieter auf die anschließende Räumungsklage zunächst nicht reagierte, erließ das Gericht ein sogenanntes Versäumnisurteil, das ihn zur Räumung verpflichtete. Dagegen legte der Mieter Einspruch ein, sodass der Fall nun inhaltlich vollständig verhandelt werden musste. Die Vermieterin beantragte, das Versäumnisurteil aufrechtzuerhalten, während der Mieter dessen Aufhebung und die Abweisung der Klage forderte. Um die gegensätzlichen gesundheitlichen Behauptungen zu klären, ordnete das Gericht zwei unabhängige psychiatrische Gutachten an – eines für den Mieter und eines für die Vermieterin.
Welche Gesetze entscheiden über Kündigung und Mieterschutz?
Im Zentrum dieses Falles stehen zwei zentrale Pfeiler des deutschen Mietrechts, die hier in einen direkten Konflikt geraten. Auf der einen Seite steht das Recht der Vermieterin, das Mietverhältnis zu beenden, wenn sie die Wohnung für sich oder ihre nahen Familienangehörigen benötigt. Dieses Recht auf Eigenbedarf ist in § 573 Abs. 2 Nr. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) verankert und wurzelt im verfassungsrechtlich geschützten Eigentum (Art. 14 Grundgesetz).
Auf der anderen Seite steht der Schutz des Mieters. Das Gesetz erkennt an, dass ein erzwungener Umzug eine außergewöhnliche Belastung darstellen kann. Der § 574 BGB erlaubt dem Mieter deshalb, der Kündigung zu widersprechen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für ihn, seine Familie oder einen anderen Angehörigen seines Haushalts eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. Eine solche Härte kann insbesondere dann vorliegen, wenn die Gesundheit des Mieters ernsthaft gefährdet ist. Dieses Schutzrecht wiederum ist ein Ausdruck des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG). Der Fall zwang das Gericht also, nicht nur Gesetze abzuwägen, sondern auch zwei hochrangige Verfassungsgüter gegeneinander zu halten.
Warum gab das Gericht der Vermieterin Recht – und nicht anders?
Die richterliche Entscheidungsfindung folgte einer klaren, mehrstufigen Logik. Das Gericht musste nacheinander mehrere Schlüsselfragen beantworten, um zu einem Ergebnis zu gelangen.
Schritt 1: War die Eigenbedarfskündigung überhaupt zulässig?
Zuerst prüfte das Gericht, ob die Kündigung formal und inhaltlich den gesetzlichen Anforderungen entsprach. Die Kündigung muss schriftlich erfolgen (§ 568 BGB) und die Gründe für den Eigenbedarf müssen nachvollziehbar dargelegt werden (§ 573 Abs. 3 BGB). Die Vermieterin hatte erklärt, dass ihr Sohn die Wohnung benötige. Da ein Sohn zu den privilegierten Familienangehörigen im Sinne des Gesetzes zählt, lag ein anerkannter Kündigungsgrund vor. Sie untermauerte ihren Vortrag zudem mit einer Meldebestätigung, die belegte, dass der Sohn tatsächlich wieder bei ihr wohnte. Das Gericht befand ihre Gründe als vernünftig, nachvollziehbar und ausreichend belegt. Formell war die Kündigung somit wirksam.
Schritt 2: War die Kündigung nur ein Vorwand?
Der Mieter hatte eingewandt, der Eigenbedarf sei nur vorgeschoben und die Kündigung eine Reaktion auf den Streit über die Nebenkosten. Ein solcher Missbrauch des Kündigungsrechts wäre nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) unzulässig. Das Gericht folgte dieser Argumentation jedoch nicht. Zwar gab es eine zeitliche Nähe zwischen dem Nebenkostenstreit und der Kündigung. Dieser Umstand allein reichte dem Gericht aber nicht als Beweis für eine missbräuchliche Absicht. Es fehlten konkrete Anhaltspunkte, die den plausiblen Vortrag der Vermieterin erschüttert hätten. Das Gericht merkte sogar an, dass die Vermieterin sich im Verfahren dem Mieter gegenüber wohlwollend geäußert habe, was gegen eine reine Bestrafungsabsicht sprach. Der Vorwurf des Rechtsmissbrauchs wurde daher verworfen.
Schritt 3: Der Härtefall – eine Pattsituation der Gesundheitsrisiken
Nun kam das Gericht zum Kern des Konflikts: der Abwägung der gegenseitigen Interessen im Rahmen des Härtefalleinwandes nach § 574 BGB. Hier offenbarte sich die ganze Tragik des Falles. Beide von Gerichts wegen bestellten Gutachter kamen zu alarmierenden Ergebnissen.
Das Gutachten über den Mieter bestätigte eine schwere chronifizierte Psychose. Der Sachverständige prognostizierte, dass ein erzwungener Umzug mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem deutlichen psychischen Rückfall führen und erneute stationäre Klinikaufenthalte notwendig machen würde. Damit war eine ernsthafte Gesundheitsgefahr klar belegt.
Gleichzeitig attestierte das Gutachten über die Vermieterin eine seit Jahren bestehende, aktuell schwer ausgeprägte depressive Störung. Die beengte und konfliktreiche Wohnsituation mit ihrem Sohn verschlimmere ihren Zustand nachweislich. Bei Aufregung leide sie unter akuter Luftnot und Sprachstörungen.
Das Gericht stand somit vor einem Dilemma: Eine Entscheidung für die Vermieterin würde die Gesundheit des Mieters gefährden. Eine Entscheidung für den Mieter würde die gesundheitliche Belastung der Vermieterin aufrechterhalten und verschlimmern.
Schritt 4: Warum die Pattsituation zugunsten der Vermieterin entschieden wurde
Für die entscheidende Abwägung griff das Gericht auf einen Grundsatz zurück, den der Bundesgerichtshof (BGH) in ständiger Rechtsprechung entwickelt hat: Ein Härtefalleinwand des Mieters setzt sich nur dann durch, wenn sein Interesse am Fortbestand des Mietverhältnisses das Interesse des Vermieters an der Beendigung klar überwiegt.
enau dieses klare Übergewicht konnte das Gericht hier nicht feststellen. Es lag eine Pattsituation vor. Auf beiden Seiten standen gewichtige, durch Gutachten belegte und verfassungsrechtlich geschützte Gesundheitsinteressen. Da kein Interesse dem anderen eindeutig übergeordnet werden konnte, griff der gesetzliche Regelfall: Das wirksam ausgesprochene Kündigungsrecht der Vermieterin setzte sich durch. Weil der Härtefall des Mieters die Interessen der Vermieterin nicht eindeutig überwog, konnte er die Kündigung nicht zu Fall bringen.
Welche Lehren lassen sich aus diesem Urteil ziehen?
Dieses Urteil beleuchtet zwei wesentliche Prinzipien des Mietrechts, die für Mieter und Vermieter von Bedeutung sind. Es geht dabei nicht um eine Handlungsanweisung, sondern um das Verständnis der richterlichen Logik.
Erstens verdeutlicht die Entscheidung die hohe Hürde des Härtefalleinwandes nach § 574 BGB. Es reicht nicht aus, eine erhebliche Belastung oder ein gesundheitliches Risiko nachzuweisen. Die Rechtsprechung verlangt, dass die Nachteile für den Mieter die berechtigten Interessen des Vermieters deutlich überwiegen. Eine Pattsituation, in der beide Seiten vergleichbar schwere Nachteile geltend machen können, fällt zulasten des Mieters aus. In einem solchen Fall greift der gesetzliche Grundsatz, dass ein wirksam begründeter Eigenbedarf zur Beendigung des Mietverhältnisses führt.
Zweitens zeigt das Urteil, dass Gerichte auch bei einer Niederlage des Mieters dessen Schutzbedürftigkeit nicht aus den Augen verlieren. Obwohl die Räumungsklage Erfolg hatte, gewährte das Gericht dem Mieter von Amts wegen eine außergewöhnlich lange Räumungsfrist von über eineinhalb Jahren (§ 721 ZPO). Damit trug es der langen Mietdauer, dem schlechten Gesundheitszustand des Mieters und seiner Unfähigkeit, selbstständig einen Umzug zu organisieren, Rechnung. Diese Frist ist kein Trostpreis, sondern ein eigenständiges Instrument der Billigkeit. Sie soll dem Mieter ermöglichen, die schwerwiegenden Folgen des Urteils abzumildern und ihm unter Einbeziehung seiner Betreuungsstrukturen ausreichend Zeit geben, eine neue, passende Wohnlösung zu finden.
Die Urteilslogik
Wenn zwei schutzwürdige Verfassungsgüter kollidieren, entscheidet der Gesetzgeber, wessen Interesse im Zweifel obsiegt.
- Der Mieterschutz muss deutlich überwiegen: Der gesundheitliche Härtefall des Mieters setzt sich gegen den berechtigten Eigenbedarf des Vermieters nur dann durch, wenn die drohenden Nachteile für den Mieter die Interessen des Vermieters klar übersteigen.
- Pattsituation fällt zulasten des Mieters aus: Können beide Seiten vergleichbar schwere, gutachterlich belegte Gesundheitsrisiken geltend machen, die sich gegenseitig aufheben (Pattsituation), greift der gesetzliche Regelfall, der dem wirksam begründeten Eigenbedarf Vorrang gewährt.
- Gerichte garantieren Übergangszeit: Selbst nach erfolgreicher Klage auf Wohnungsherausgabe muss das Gericht von Amts wegen eine lange Räumungsfrist gewähren, um gesundheitlich stark belasteten Mietern genügend Zeit zu verschaffen, die schwerwiegenden Folgen der Kündigung abzumildern.
Das Gericht anerkennt zwar die hohe Bedeutung des Mieterschutzes, hält aber am Grundsatz fest, dass ein wirksam begründeter Eigenbedarf nur bei einem klaren Übergewicht des Mieterinteresses scheitert.
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Experten Kommentar
Viele Mieter glauben, ein schweres Attest reicht, um eine Eigenbedarfskündigung zu stoppen. Dieses Urteil zeigt, dass die Härtefallprüfung brutal konsequent ist: Wenn die gesundheitlichen Nachteile des Mieters die Belastung des Vermieters nicht klar überwiegen, setzt sich der Eigenbedarf durch. Das Gericht sah eine Pattsituation des Leidens, in der die Waage nicht kippte, weshalb formal zugunsten des Eigentümers entschieden wurde. Die praktische Lehre für den Mieterschutz ist hart: Eine Gleichheit der Notlage führt zur Niederlage, selbst wenn das Gericht die menschliche Tragödie mit einer außergewöhnlich langen Räumungsfrist abfedert.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Wann schützt mich eine psychische Erkrankung vor der Eigenbedarfskündigung?
Eine schwere psychische Erkrankung schützt Sie nur unter sehr spezifischen Voraussetzungen vor einer Eigenbedarfskündigung. Ihr Härtefalleinwand setzt sich nur dann durch, wenn die drohenden gesundheitlichen Folgen klar und eindeutig die berechtigten Interessen des Vermieters überwiegen. Der erzwungene Umzug muss dabei die direkte und kausale Ursache für eine ernsthafte Gesundheitsgefahr darstellen, etwa die hohe Wahrscheinlichkeit eines schweren Rückfalls oder eines Klinikaufenthalts.
Der Gesetzgeber definiert in § 574 BGB, dass die Beendigung des Mietverhältnisses für Sie eine unzumutbare Härte darstellen kann. Diese Härte muss jedoch weit über allgemeine Umzugsschwierigkeiten hinausgehen. Gerichte verlangen den Nachweis, dass der Umzug bei Ihrer spezifischen chronifizierten Erkrankung unmittelbar zu einem schwerwiegenden Schaden führt. Dafür benötigen Sie ein medizinisches Dokument, das eine präzise, zukunftsorientierte Prognose abgibt, nicht nur eine Bestätigung der aktuellen Diagnose.
Der Schutz greift nicht, wenn der Vermieter seinen Eigenbedarf ebenfalls mit gewichtigen, gutachterlich belegten Gesundheitsinteressen begründet. Entsteht eine juristische Pattsituation, in der die Interessen beider Parteien als gleichwertig schwerwiegend beurteilt werden, fällt die Entscheidung zulasten des Mieters. Das wirksam begründete Kündigungsrecht des Vermieters gilt in diesem Fall als gesetzlicher Regelfall und setzt sich durch.
Kontaktieren Sie unverzüglich Ihren behandelnden Facharzt, um eine dezidierte Stellungnahme zu erhalten, die die Notwendigkeit stationärer Klinikaufenthalte als direkte Folge des Umzugs feststellt.
Muss mein gesundheitlicher Härtefall die Interessen des Vermieters klar überwiegen?
Ja, der Gesetzgeber hat die Latte bewusst hoch gelegt. Ihr gesundheitlicher Härtefall muss die berechtigten Interessen des Vermieters nicht nur erreichen, sondern diese klar überwiegen. Diese Anforderung ergibt sich aus § 574 BGB und ist eine Vorgabe des Bundesgerichtshofs (BGH). Liegt nur ein Gleichgewicht der Interessen oder eine Pattsituation vor, setzt sich das Kündigungsrecht des Vermieters durch.
Die Regel, dass die Kündigung wirksam wird, wenn kein klares Übergewicht besteht, liegt in der Natur der Beweislast. Der Mieter trägt die volle Verantwortung, die Härte zu belegen und zu zeigen, dass seine Situation das Eigentumsrecht des Vermieters deutlich in den Hintergrund drängt. Der Eigenbedarf ist der gesetzliche Regelfall für eine wirksame Kündigung. Wenn die Argumente beider Seiten vor Gericht als gleichwertig gewichtig erscheinen, behält die ursprünglich wirksam ausgesprochene Kündigung ihre Gültigkeit.
Dieses Prinzip zeigte sich in einem Gerichtsfall, bei dem der Mieter an einer schweren Psychose und die Vermieterin an einer Depression litt. Das Gericht stellte fest, dass beide Parteien gleichermaßen schwere, durch Gutachten belegte Gesundheitsrisiken trugen. Da die Schwere der drohenden Nachteile nicht eindeutig zugunsten des Mieters überwog, fiel die Entscheidung zugunsten des Vermieters aus. Um das Übergewicht zu erzielen, müssen Sie entweder Ihren eigenen Schaden maximieren oder die Notwendigkeit des Eigenbedarfs beim Vermieter aktiv entkräften.
Prüfen Sie mithilfe eines Anwalts alle Beweismittel, welche die tatsächliche Dringlichkeit des Eigenbedarfs auf Vermieterseite abschwächen könnten.
Welche ärztlichen Gutachten benötige ich für den Härtefall-Widerspruch?
Ein standardmäßiger Arztbrief reicht für einen Härtefall-Widerspruch selten aus. Gerichte verlangen eine präzise, zukunftsorientierte Prognose, die die juristische Kausalität belegt. Ihr Gutachten muss klar definieren, dass der erzwungene Umzug eine unmittelbare, schwerwiegende Gesundheitsgefahr darstellt. Nur so kann die hohe Hürde des klaren Überwiegens überwunden werden.
Um einen Härtefall nach § 574 BGB nachzuweisen, benötigen Sie in der Regel ein unabhängiges, psychiatrisches Gutachten. Einfache Atteste, die lediglich Ihre bestehende Diagnose oder Medikation dokumentieren, werden von Gerichten oft als unzureichend verworfen. Die Erkrankung muss als chronifiziert und schwerwiegend eingestuft werden. Allgemeine Belastung oder Stress, die typischerweise mit einem Umzug einhergehen, gelten nicht als außergewöhnliche Härte im juristischen Sinne.
Das zentrale Element ist die exakte Prognose der Gesundheitsfolgen. Ihr Arzt muss explizit feststellen, dass ein Wohnungsverlust mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem deutlichen psychischen Rückfall führen wird. Es muss die zwingende Konsequenz des Umzugs dargelegt werden, wie die Notwendigkeit eines unvermeidlicher stationärer Aufenthalts. Nur wenn diese unmittelbare und drastische Folge belegt wird, wird die Gefahr für das Gericht greifbar und gewichtet.
Bitten Sie Ihren behandelnden Arzt, die Stellungnahme unbedingt mit juristisch relevanten Begriffen wie „hohe Wahrscheinlichkeit“ und „stationärer Aufenthalt“ zu versehen, um die Gefahr für das Gericht greifbar zu machen.
Was tun, wenn das Gericht dem Vermieter Recht gibt und ich nicht umziehen kann?
Wenn das Gericht die Räumung anordnet, ist der Räumungsprozess zwar verloren, aber Sie haben noch einen wichtigen Rechtsbehelf. Sie können sofort die Gewährung oder Verlängerung einer Räumungsfrist nach § 721 ZPO beantragen. Dieses eigenständige Instrument der Billigkeit dient dazu, die schwerwiegendsten Folgen des Urteils abzumildern und Ihnen einen zeitlichen Puffer zu verschaffen. Die Frist soll sicherstellen, dass unter Einbeziehung von Betreuungsstrukturen eine neue Wohnlösung gefunden werden kann.
Die Räumungsfrist ist ein Notfallinstrument und greift selbst dann, wenn Ihr vorheriger Härtefall-Widerspruch nicht erfolgreich war. Das Gericht berücksichtigt dabei explizit Ihre gesundheitliche Lage, das Alter sowie die Dauer des Mietverhältnisses. Richter prüfen, inwiefern Sie realistisch in der Lage sind, einen Umzug selbst zu organisieren und ob eine sofortige Vollstreckung Ihren Zustand akut verschlechtern würde. Die Frist soll verhindern, dass Sie obdachlos werden oder Ihr Gesundheitszustand durch die Zwangsvollstreckung sofort kollabiert.
Im konkreten Fall wurde dem Mieter trotz verlorener Räumungsklage eine außergewöhnlich lange Frist von über eineinhalb Jahren gewährt. Das Gericht trug damit der langen Mietdauer und der festgestellten Unfähigkeit des schwer psychisch kranken Mieters Rechnung, den Umzug zeitnah selbst zu organisieren. Gerichte nutzen diese Maßnahme, um die praktischen und organisatorischen Hürden des unfreiwilligen Umzugs zu erleichtern und somit die Belastung zu minimieren.
Beantragen Sie diese Frist unverzüglich über Ihren Anwalt und reichen Sie aktuelle ärztliche Nachweise zur Notwendigkeit der Verzögerung ein.
Wann gilt eine Eigenbedarfskündigung als vorgeschoben oder missbräuchlich?
Wenn der Vermieter den Eigenbedarf nur vortäuscht, um einen ungeliebten Mieter loszuwerden, liegt ein Missbrauch des Kündigungsrechts vor. Eine solche Eigenbedarfskündigung ist unwirksam, weil sie dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) widerspricht. Allerdings trägt der Mieter die hohe Beweislast, diesen Missbrauch gerichtsfest zu belegen.
Die Vermutung, die Kündigung sei eine Reaktion auf einen Konflikt, wie beispielsweise einen Nebenkostenstreit oder eine Mängelrüge, reicht als Beweis nicht aus. Gerichte sehen die zeitliche Nähe zu einem vorausgegangenen Streit lediglich als schwaches Indiz an. Um den plausiblen Anspruch des Vermieters zu erschüttern, benötigen Sie konkrete, objektive Anhaltspunkte, die den Eigenbedarf aktiv widerlegen.
Ein starker Beweis entsteht, wenn Sie die zukünftige Nutzung des Vermieters infrage stellen. Konkret: Dokumentieren Sie, dass die Wohnung kurz nach der Kündigung deutlich teurer im Internet inseriert wird. Ebenfalls relevant ist der Nachweis, dass der angeblich bedürftige Angehörige bereits eine geeignete Alternative gefunden hat oder nie vorhatte, tatsächlich einzuziehen. Solche Widersprüche machen den Vortrag des Vermieters unglaubwürdig.
Recherchieren und dokumentieren Sie sofort alle öffentlich zugänglichen Informationen über die Wohnung, um die tatsächliche Absicht des Vermieters zu belegen.
Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Beantwortung der FAQ Fragen keine individuelle Rechtsberatung darstellt und ersetzen kann. Alle Angaben im gesamten Artikel sind ohne Gewähr. Haben Sie einen ähnlichen Fall und konkrete Fragen oder Anliegen? Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren. Wir klären Ihre individuelle Situation und die aktuelle Rechtslage.
Glossar – Fachbegriffe kurz erklärt
Einspruch
Der Einspruch ist das Rechtsmittel im Zivilprozess, mit dem ein Beklagter eine Entscheidung, die ohne seine Anwesenheit getroffen wurde, nämlich ein Versäumnisurteil, angreifen und damit eine vollständige Verhandlung der Sache erzwingen kann. Dieses Instrument ermöglicht es dem Gericht, den Prozess inhaltlich neu aufzurollen und die ursprüngliche Klage zu prüfen, falls der Beklagte nachträglich Gründe vorbringt, die gegen die Klage sprechen.
Beispiel: Weil der Mieter auf die Räumungsklage zunächst nicht reagierte, musste er nach Erlass des Versäumnisurteils sofort Einspruch einlegen, um den Verlust der Wohnung zu verhindern und eine materielle Verhandlung über den Härtefalleinwand zu ermöglichen.
Härtefalleinwand
Mithilfe des Härtefalleinwandes nach § 574 BGB kann ein Mieter einer berechtigten Kündigung widersprechen, wenn der erzwungene Auszug für ihn, etwa wegen einer schweren Erkrankung, eine nicht mehr zu zumutende und außergewöhnliche Härte darstellen würde. Die gesetzliche Regelung dient dem Schutz von Mieterinteressen in existentiellen Ausnahmesituationen und verlangt vom Gericht eine strenge Abwägung gegen das Eigentumsrecht des Vermieters.
Beispiel: Der Mieter legte seinen Härtefalleinwand vor, indem er darstellte, dass der drohende Wohnungsverlust bei seiner chronifizierten Psychose unweigerlich einen Rückfall und einen stationären Klinikaufenthalt verursachen würde.
Klares Übergewicht
Juristen nennen das Kriterium „Klares Übergewicht“ eine vom Bundesgerichtshof (BGH) entwickelte, hohe Hürde: Nur wenn das Interesse des Mieters am Erhalt der Wohnung das berechtigte Interesse des Vermieters an der Kündigung deutlich und eindeutig übersteigt, kann der Härtefalleinwand erfolgreich sein. Wenn die Interessen beider Parteien, wie im Fall zweier gleichgewichtiger Gesundheitsrisiken, nur ein Gleichgewicht oder eine Pattsituation bilden, setzt sich das ursprünglich wirksame Kündigungsrecht des Vermieters durch.
Beispiel: Weil im Fall der Eigenbedarfskündigung das gesundheitliche Interesse des schwer kranken Mieters das gleichwertig gewichtige Gesundheitsinteresse der Vermieterin nicht klar überwog, konnte das Gericht das gesetzliche Kündigungsrecht nicht zu Fall bringen.
Räumungsfrist
Die Räumungsfrist ist ein richterliches Instrument nach § 721 ZPO, das dem Mieter nach einem verlorenen Räumungsprozess gewährt wird, um ihm ausreichend Zeit für die Suche nach einer neuen Wohnlösung und die Organisation des Umzugs zu verschaffen. Das Gericht berücksichtigt dabei Billigkeitsaspekte wie eine lange Mietdauer, das Alter oder den Gesundheitszustand des Mieters, um die schwerwiegendsten Folgen der gerichtlichen Entscheidung abzumildern.
Beispiel: Obwohl die Räumungsklage der Vermieterin Erfolg hatte, gewährte das Amtsgericht dem schwer psychisch kranken Mieter von Amts wegen eine außergewöhnlich lange Räumungsfrist von über eineinhalb Jahren, um ihm Zeit zur Organisation seiner Betreuungsstrukturen zu geben.
Treu und Glauben
Der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) ist eine zentrale Rechtsnorm, die von allen Beteiligten im Geschäftsverkehr, also auch im Mietverhältnis, redliches und loyales Verhalten erwartet. Diese Norm verhindert, dass jemand seine Rechte missbräuchlich ausübt, beispielsweise indem ein Vermieter das Recht auf Eigenbedarf nur als vorgeschobenen Vorwand benutzt, um einen unliebsamen Mieter loszuwerden.
Beispiel: Der Mieter argumentierte, die Eigenbedarfskündigung verstoße gegen Treu und Glauben, da sie in Wahrheit eine Reaktion auf seinen kritischen Widerspruch gegen die Nebenkostenabrechnung darstelle.
Versäumnisurteil
Ein Versäumnisurteil ist ein Urteil, das ein Zivilgericht fällt, wenn eine der Parteien – in der Regel der Beklagte – im angesetzten Verhandlungstermin unentschuldigt fehlt und sich nicht anwaltlich vertreten lässt. Dieses Urteil verpflichtet die fehlende Partei zur Befolgung der klägerischen Forderung und kann erlassen werden, ohne dass das Gericht den Sachverhalt selbst prüfen muss, da es die Behauptungen der anwesenden Partei als zugestanden annimmt.
Beispiel: Nachdem der Mieter zunächst nicht auf die gerichtliche Räumungsklage reagiert hatte, erließ das Amtsgericht ein Versäumnisurteil, das ihn zunächst zur sofortigen Räumung der Zwei-Zimmer-Wohnung verpflichtete.
Das vorliegende Urteil
AG Neustadt/Rübenberge – Az.: 44 C 483/23 – Urteil vom 17.02.2025
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